Was passt schon auf 158 Seiten? Eine Menge, wie Witi Ihimaera beweist. Er erzählt in Whalerider nicht nur die Geschichte der jungen Kahu, die aus eigener Kraft die Zwänge der männerdominierten Stammeskultur der Maori überwinden muss, um ihrer Bestimmung zu folgen. Er erzählt auch von Kolonialismus und Rassismus, kulturellem Überlebenskampf und dem Leben zwischen zwei Welten. Und nicht zuletzt von der Verbundenheit von Menschen und Natur.
Dem Stammeshäuptling Koro Apirana wird eine Enkelin geboren – Kahu. Eine herbe Enttäuschung, wartet er doch auf einen männlichen Erben, dem er der Tradition getreu die Führung des Stammes überantworten kann. In seinem Starrsinn übersieht er nicht nur die bedingungslose Liebe, die ihm das Kind entgegenbringt, sondern auch die Zeichen seiner Berufung. Bis Kahu aus eigener Kraft ihr Erbe antritt.
Aus eigener Kraft? Nicht ganz. Da ist noch Nanny Flowers, die überlebensgroße Großmutter, die mit einem beherzten Sprung ins Wasser beinahe das Meer ausleert. Sie konnte die engen Grenzen der patriarchalischen Stammeskultur zwar nicht selbst überwinden, setzt aber als Mentorin Himmel und Hölle in Bewegung, um es ihrer geliebten Enkelin zu ermöglichen. Sie spannt dafür ihren jüngeren Sohn Rawiri ein, der auch als Erzähler der Geschichte fungiert. Sein liebevoller Blick auf seine Nichte formt die Wahrnehmung Kahus, die als kleine Lichtgestalt erscheint, als Verheißung. Es wird dem Leser zur Herzensangelegenheit, dass das Mädchen von ihrem Großvater anerkannt wird.
Die nicht immer friedfertige Dynamik innerhalb der Familie schildert Ihimaera mit mal hintergründigem, mal trockenem Humor. Mit wenigen „Pinselstrichen“ schafft es der Autor, seinen Figuren Räumlichkeit und Persönlichkeit zu geben – sogar Koro Apirana war mir zugänglich, weil seine Handlung klar motiviert ist.
Ein authentisches Bild der Maori
Witi Ihimaera gilt als bedeutendster lebender Autor aus dem Volk der Maori. Aus seiner Vertrautheit mit den Gebräuchen, Mythen und Lebensrealitäten der Maori resultieren leichtfüßige Szenen und Schilderungen, die nicht vieler Worte bedürfen, um ein authentisches, greifbares Bild von der indigenen Bevölkerung Neuseelands zu zeichnen. Dieser Eindruck wird von Einsprengseln in der Sprache der Maori gestützt. Die Erzählung liest sich leicht und spricht das Gefühl an, ohne aber in Kitsch abzugleiten.
Der Autor romantisiert die Gesellschaft der Maori nicht, spricht auch wunde Punkte an: So begegnet Rawiri auf seiner Selbstfindungsreise in Australien auf „Exil-Maori“, junge Männer und Frauen, die ihre vom strengen Moralkodex des Stammes abweichenden Neigungen und Lebensstile hinter Abwesenheit verbergen – unter der sie zugleich leiden. Ihimaera, der sich 1984 outete, hat hier möglicherweise selbst schmerzhafte Erfahrungen gemacht.
Der Mensch – Schöpfer oder Parasit?
Viele Autor*innen zeichnen Legenden oder Mythen in Sepiatönen. Die Bilder, die Ihimaera aufruft, sind dagegen immer leuchtend, fließend und gegenwärtig – ob er nun von „grauer Vorzeit“ oder den Achtzigerjahren erzählt. Insbesondere der mythische Walritt des Kahutia te Rangi spielte sich vor meinem Auge ab wie ein Film – fehlte nicht viel, und ich hätte Gischt auf dem Gesicht gespürt. Die Aussageabsicht ist klar: Die Legenden und Mythen die Ihimaera heraufbeschwört, sind auch für die Achtzigerjahre von Bedeutung, wo Legende und Realität der Erzählung zusammenfließen. Und nicht nur für die Achtziger, wie ich finde!
Wir alle sind Gegenstand eines sich zuspitzenden Diskurses um die nicht mehr nur drohende Klimakatastrophe. Zumindest bei mir begründet der ein Unbehagen in meinem Bezug zu Natur und Umwelt, das negatives Selbstbild einer parasitären Existenz. Das war mir so nicht bewusst, bis ich den Gegenentwurf Ihimaeras las: Hier gibt es – zumindest in Legenden – einen schöpferischen Menschen, der nicht nur von einer paradiesischen Natur willkommen geheißen wird, sondern sie in gewisser Weise erst ermöglicht. Das weckt eine unbestimmte Sehnsucht nach einer anderen Selbstwahrnehmung und einer anderen Rolle in der Welt.
Ihimaeras Whalerider hat mich bewegt, unterhalten und belehrt – und das alles auf nur 158 Seiten. Das Buch ist ein Lehrstück in Sachen dichter Erzählung und erhält von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung!
Ausstattung und Hintergründe
Der Rowohlt-Verlag hat sich bei der Wiederauflage des Titels hinsichtlich der Ausstattung nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Der Satzspiegel ist zu groß für die Seite und man tut dem Taschenbuch beim Lesen spürbar Gewalt an. Im Text tauchen Worte, Phrasen und Sätze in der Sprache der Maori auf, die zwar in einem Glossar übersetzt werden – aber ich hätte eine Lösung über Fußnoten bevorzugt, weil sie zum einen den Lesefluss weniger stört (Geschmackssache!) und zum andern das Blättern in einem Band mit widerspenstiger Bindung reduziert hätte. Das macht der Verlag bei anderen Taschenbüchern derselben Preisklasse besser.
The Whale Rider erschien ursprünglich 1987 und war 1986 binnen drei Wochen vom Autor niedergeschrieben worden – inspiriert einmal von der Klage seiner jungen Töchter, dass immer nur Jungs die Helden seien, sowie der zur gleichen Zeit statthabenden, außergewöhnlichen Walsichtung im Hudson River in New York City.
Weitere Ausgaben und Medien
Sabine Schulte übersetzte den schmalen Band für die 2003 erschienene deutsche Erstausgabe aus dem Englischen. Neben der deutschen liegen über 20 weitere Übersetzungen der Erzählung vor. Es gibt eine Hörspielproduktion des WDR aus dem Jahr 2005 sowie eine mehrfach ausgezeichnete und für einen Oscar nominierte Verfilmung aus dem Jahr 2002. Der Soundtrack zum Film ist auf Spotify und YouTube zu finden und eignet sich prima, um sich auf die Lektüre einzustimmen!
Ich wurde durch die Aktion „Eine Uni. Ein Buch.“ der JGU Mainz auf Whalerider aufmerksam. Im Sommersemester 2023 veranstaltet meine Alma Mater ein Lesefestival rund um das Buch, zu dem auch eine hybride Ringvorlesung gehört, die alle via Livestream verfolgen können. Regelmäßige Informationen und Updates zur Aktion gibt’s auch via Instagram: @readingthewhalerider.
